Die wilde Poesie des Spiels: Zum Fußball in der Weimarer Republik

Im Februar 1919 erschien in Berlin eine großformatige Zeitschrift mit dem merkwürdigen Titel „Jedermann sein eigner Fußball“, vom Cover grüßte freundlich ein Herr mit einem riesigen Bauch der unschwer als Fußball zu erkennen war. Herausgeber waren die Brüder Herzfeld und ihr Freund George Grosz, der später als Maler berühmt wurde. Mit ihren Collagen griffen die drei Dadaisten das neue Establishment scharf an. „Den Titel hatte Grosz vorgeschlagen“, berichtete Wieland Herzfeld später. „Er sollte etwa besagen: Lasst Euch nicht mehr treten, handelt aus eigenem Antrieb!“

Es waren wilde, umkämpfte Wochen und Monate, in denen die deutsche Gesellschaft in ein Vakuum gefallen war. Im November 1918 hatte Philipp Scheidemann die Weimarer Republik ausgerufen und das Kaiserreich für beendet erklärt. Doch nach der „Deutschen Revolution“ setzte sich der Große Krieg, der eigentlich beendet war, in Revolten wie dem Spartakisten-Aufstand und dem Kapp-Putsch auf den Straßen deutscher Städte fort. In dieser heiklen Lage, in der das Land wie in einer Zentrifuge auseinanderzufliegen zu schien, diente der Fußball also als Metapher für die individuelle Freiheit.

Dieses Bild kam nicht von Ungefähr. Wuchs der Fußball doch in den zwei Jahren nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zu einer Massenkultur. Waren 1914 noch 190.000 Mitglieder unter dem Dach des Deutschen Fußballbundes registriert, vervierfachte sich diese Zahl bis ins Jahr 1920. Hinzu kamen diejenigen, die auf der Straße kickten oder in Freikorps oder in Mannschaften des Arbeitersports. Sie alle profitierten von den neuen Freizeitmöglichkeiten, die sich mit der Reduzierung der Arbeitszeiten ergaben. Jedenfalls hatte sich der Fußball, wie Richard Girulatis in seinem Lehrbuch Fußball. Theorie, Technik, Taktik stolz anführte, in kürzester Zeit zum „wahren Volkssport entwickelt, den hoch und niedrig, arm und reich, Kopf- und Handarbeiter ausüben, dem alle Schichten der Bevölkerung Interesse entgegenbringen“.

Fußlümmelei
Titelbild Fußlümmelei von Karl Planck

Das egalitäre und zutiefst demokratische Moment des Fußballs war schon an den Fronten des Weltkrieges zum Ausdruck gekommen, denn dort hatten in der Etappe Gefreite neben Offizieren gespielt. Mit Beginn der Weimarer Republik, vor deren Verfassung nun alle Menschen gleich waren, zählten die Privilegien des Adels und des Militärs nichts mehr. Um die Herkunft gehe es beim Fußball ohnehin nicht, betonte Girulatis, der Sohn eines Hufschmieds, vielmehr stünden erzieherische Werte und die Gemeinschaft im Fokus. Sein Credo: „Elf Freunde müsst Ihr sein, um Siege zu erringen.“

Im Kaiserreich hatten Fußballfeinde wie Karl Planck die Ästhetik des neuen Spiels noch massiv kritisiert. Der Tritt gegen einen Fußball sei „ja schon, auf die bloße Form hin gesehen, hässlich“, wütete der Turnpädagoge in seiner berühmten Streitschrift Fusslümmelei (1898), der Fußball erniedrige „den Menschen zum Affen“. Verteidiger wie Konrad Koch sahen sich daher gezwungen, mit der „wilden Poesie des Spiels“ zu argumentieren. Der Pionier zeichnete den Fußball als veritables Schlachtengemälde, in dem Kühnheit und Verwegenheit der stürmenden Jünglinge einer „zahmen Alltagskunst“ gegenüberstand.

Da der Fußball aus England stammte, stand er allerdings unter Generalverdacht, „undeutsch“ zu sein. Selbst auf der Insel misstrauten die mittelalterlichen Autoritäten indes für lange Zeiten dem Spiel. König Edward II. bezeichnete im Jahr 1314 die zumeist wilden Fußballspiele als „Zusammenrottungen“, die nicht weniger als die öffentliche Ordnung bedrohten, weshalb er ein Verbot erließ. Diese unkontrollierbaren Urformen des Fußballs, deren Traditionen bis heute in Städten wie Ashbourne gepflegt werden, fanden stets zur Faschings- und Karnevalszeit statt, in denen bekanntlich das Volk regiert – und in Köln der Elferrat.

Weshalb sich angesichts der Bedeutung der mittelalterlichen Zahlenmystik die These aufdrängt, dass die Elf als Zahl der Sünde und Maßlosigkeit im 19. Jahrhundert in die Grammatik des Spiels einfloss. Oder war es nur ein historischer Zufall, dass der erste Verband des Fußballs, die englische Football Association, 1863 in einer Freimaurer-Taverne gegründet wurde? Waren es nicht die Freimaurer, die nach Konzepten suchten, um Werte wie Humanität, Toleranz, Gleichheit und Freiheit zu befördern?

Die bunte Vielfalt des Fußballs Weimarer Prägung ist freilich nicht ohne die neue Freiheit der Wissenschaft und der Öffentlichkeit zu verstehen. An der 1920 gegründeten Deutschen Hochschule für Leibesübungen, der ersten Sportuniversität der Welt, suchten Psychotechniker wie Robert W. Schulte mit neuartigen Apparaten wie dem „Fußball-Treffprüfer“ nach Wegen, das Spiel zu dechiffrieren. In diesem ersten Versuchslabor der Sportwissenschaft experimentierten neben Girulatis, dem ersten Fußballdozenten, bald auch die ersten Reichstrainer Dr. Otto Nerz und Josef „Sepp“ Herberger.

Die Entscheidung des Reichs am Anfang der Weimarer Republik, den kommunalen Stadionbau massiv zu subventionieren, sorgte für eine moderne Infrastruktur – und befeuerte so in den neuen Arenen in Frankfurt, Köln, Dortmund oder Nürnberg noch den Aufstieg des Fußballs zu einer Massenkultur. Seit 1922 waren Spiele mit über 30.000 Zuschauern keine Seltenheit mehr, es entwickelte sich zugleich die Basis der heutigen Fankultur.

Berliner Oase

Einen ebenso nachhaltigen Einfluss auf das Spiel hatte die Presse, die nun frei von Zensur agierte. Sogar in intellektuellen Blättern wie der Vossischen Zeitung war der Fußball nun ein Thema, Chef des Sportteils war der frühere Torwart Willy Meisl, der später als „König der Sportjournalisten“ gefeiert wurde. Im Jahr 1928 erschienen mehr als 500 Sportzeitschriften. Hinzu kam der Rundfunk, der 1925 mit den Sprechern Bernhard Ernst und Carl Koppehel mit im Fußball auf Sendung ging.

In der medialen Vielfalt der Weimarer Republik gab es famose künstlerische Experimente, um den Mysterien des Fußballs auf die Spur zu kommen, etwa jenes EKG-Diagramm, mit dem der Luxemburger Jean Jacoby 1927 eine Partie 1. FC Nürnberg gegen Hertha BSC grafisch verewigte. Künstler und Schauspieler wie Hans Albers, Regisseure und Rundfunkpioniere wie Alfred Braun zelebrierten gemeinsam mit Fußballjournalisten das neue Lebensgefühl, das im Fußball zum Ausdruck kam, durch gemeinsame Auftritte in der Hobbymannschaft Berliner Oase. 

EKG_Jacoby
Neue Ausdrucksweisen an der Schnittstelle von kunst & Wissenschaft - Jean Jacoby´s EKG-Diagramm eines Fußballspiels

Der neue Lifestyle Fußball floss bald auch ein in die Trivialliteratur, etwa in den Romanen wie „Elf Fußball-Jungens“ oder „Der Mittelstürmer für Hollywood“. Bildhauerinnen wie René Sintenis oder der Bauhaus-Maler Willi Baumeister beschäftigten sich so intensiv mit dem Spiel wie die renommierten Fotografen T. Lux Feiniger, Lothar Rübelt oder Gerhard Riebicke.

Vor allem aber formierte sich starker Widerstand gegen alle Versuche der Obrigkeit, den Fußball als Instrument parteipolitischer oder militärischer Interessen zu benutzen. Kurt Tucholsky mokierte sich 1926 über „Fußball mit Menschenköpfen“. Der Pionier Walther Bensemann, der 1920 den „kicker“ gegründet hatte, attackierte in seinen brillanten Kolumnen jene Funktionäre, die die Freiheit des Spiels bedrohten. Der Kosmopolit betrachtete den Fußball als ideale Plattform, die Menschen zusammenzubringen. „Der Sport ist eine Religion“, schrieb Bensemann 1930, „ist vielleicht das einzige wahre Verbindungsmittel der Völker und Klassen“.

Der internationale und liberale Charakter des Spiels war da längst in Wettbewerbsformen wie dem Mitropa-Cup, dem Vorläufer des Europapokals, gegossen worden. Wenn auch die ersten Versuche der Gebrüder Otto und Ernst Eidinger, Profifußball zu installieren, 1920 in Berlin noch spektakulär gescheitert waren, schuf der Kommerz nun einen Fußballmarkt. Seit 1924 wurde das Gesellschaftsspiel Tipp-Kick verkauft. Und bald legten Zigarettenkonzerne den Packungen Sammelbilder mit den neuen Fußballhelden anbei, um den Vertrieb anzukurbeln. Kaffee Hag warb mit Stars wie dem Torwart Heiner Stuhlfauth. Andere Nationalspieler wie Willibald Kress oder Richard Hofmann ließen sich auf Autogrammkarten wie Schauspieler inszenieren.

Eine Besonderheit des Fußballs in der Weimarer Republik bestand darin, dass der Dachverband DFB sich dieser Kommerzialisierung und überhaupt dem Profifußball beharrlich verweigerte. Der Dachverband boykottierte von 1925 bis 1930 gar den Spielverkehr mit Mannschaften aus Ländern, in denen professionell gespielt wurde – Hintergrund war die Sorge, steuerliche Privilegien wie die Befreiung von kommunalen Vergnügungssteuern zu verlieren. Der DFB folgte insofern dem Diktat des olympischen Amateurismus, der viele soziale Gruppen (etwa Arbeiter und Frauen) tatsächlich kategorisch ausschloss. Und bog damit auf einen heftig kritisierten „deutschen Sonderweg“ ab, der die Berufsfreiheit der besten deutschen Fußballer bis 1972 einschränken sollte.

Tragisch war, dass Figuren wie Meisl und Bensemann, die sich für die verspielte Freiheit des Fußballs stark gemacht hatten, nach der „Machtergreifung“ 1933 ihre Stimme verloren – nur weil sie Juden waren. Auch die Nationalspieler Julius Hirsch und Gottfried Fuchs fielen wie alle prominenten Juden der nationalsozialistischen „damnatio memoriae“ zum Opfer. Unter den Nazis verstummte jedenfalls die „wilde Poesie“ des Spiels. Und zugleich starb die Idee, den Fußball als Metapher der Freiheit zu deuten.

Wege zu Kraft und Schönheit (1925) Alfred Braun https://verspieltefreiheit.de/media/pages/wiki/alfred-braun/8cbf12896a-1720083332/praesentation_seite_44.jpg Auf dem Fußballplatz Bauhaus Bernhard Ernst Carl Koppehel Der Mittelstürmer für Hollywood https://verspieltefreiheit.de/media/pages/wiki/der-mittelsturmer-fur-hollywood/c7cd0dc7f5-1720085604/cover-der-mittelsturmer-von-hollywood.jpg Die Eignung des Fußballspielers https://verspieltefreiheit.de/media/pages/wiki/die-eignung-des-fussballspielers/29ae310716-1715606552/abb_262_die-ballbehandlung_des_fussballers.png Fritz Löhner-Beda Buchenwald-Lied Jedermann sein eigner Fußball https://verspieltefreiheit.de/media/pages/wiki/jedermann-sein-eigner-fussball/2a48689c71-1720165241/jedermann_sein_eigner_fussball.jpeg WM-System https://verspieltefreiheit.de/media/pages/wiki/wm-system/de0cfd76d2-1719921004/wm-system.jpg Richard Girulatis https://verspieltefreiheit.de/media/pages/wiki/richard-girulatis/091a2f243c-1719865447/berliner_tufc_union_92_04-05.jpg Konrad Koch https://verspieltefreiheit.de/media/pages/wiki/konrad-koch/7a2345374e-1719910334/koch-unterricht.webp Deutsche Hochschule für Leibesübungen https://verspieltefreiheit.de/media/pages/wiki/deutsche-hochschule-fur-leibesubungen/39d8b00113-1719903330/csm_chronik_dshs-epoche1_seite_2_bild_0003_eccdcdad95.jpg Die taktischen Probleme des Fußballspiels https://verspieltefreiheit.de/media/pages/wiki/die-taktischen-probleme-des-fussballspiels/07b61da2d8-1719905527/img_7672.jpg Spielbewegung Sportwissenschaft Robert W. Schulte Fachamt Fußball Felix Linnemann Dr. Otto Nerz Sepp Herberger Willy Meisl https://verspieltefreiheit.de/media/pages/wiki/willy-meisl/e2530f97e4-1719924702/meisl_ullstein_culdawm014_web.jpg Eugen Seybold Berliner Fußballwoche Hugo Meisl Elf Freunde müsst ihr sein Ernst Werner Hakoah Wien Guido von Mengden Elf Fußball-Jungens https://verspieltefreiheit.de/media/pages/wiki/elf-fussball-jungens/ef47675649-1720085311/elf-fussbaljungens-cocer.jpg Fußball mit Menschenköpfen Walther Bensemann https://verspieltefreiheit.de/media/pages/wiki/walther-bensemann/52291e48a8-1720160945/walther_bensemann_1887_mit_ball.jpeg Richard Hofmann https://verspieltefreiheit.de/media/pages/wiki/richard-hofmann/de5a674f3a-1720164118/presse-hofmann-richard-ca.-1928-autogrammkarte.jpg kicker Was macht die Fußballbraut am Sonntagnachmittag?
projekt partner
gefördert von